Quelle: Radio 32 / Manuela Roth / Joel Dähler / Marco Reusser (Archivbeitrag: 8. April 2022)
Es ist und bleibt ein Geheimnis, wo genau sich das Frauenhaus Aargau-Solothurn befindet – und das mit gutem Grund. Denn hier finden Frauen Zuflucht und Geborgenheit, die beispielsweise häusliche Gewalt erfahren haben. Es ist essenziell, dass niemand weiss, wo sich diese Zufluchtsstätte befindet.
Die Institution gibt es seit 40 Jahren. Am Mittwoch wurde das Jubiläum im Theaterstudio Olten gefeiert, mit der Erstaufführung des Stücks «Gwaltig gärn». Es erzählt die Geschichte eines jungen Paares und zeigt, wie Gewalt in einer Partnerschaft Wirklichkeit werden kann. Die Jubiläumsfeier mit geladenen Gästen ist am Freitag in Aarau.
Radio 32-Moderatorin war eine Woche zu Gast
Wie es im Innern eines Frauenhauses aussieht, wissen nur die Mitarbeiterinnen und jene, die einmal dort Zuflucht suchen mussten. Und die ehemalige Radio 32-Moderatorin Manuela Roth. Sie begleitete im Frühling 2022 eine Woche lang die Mitarbeitenden und direkt betroffene Frauen und wohnte im Frauenhaus Aargau Solothurn. Zum Jubiläum gibts hier nochmals ihr Tagebuch.
Manuelas Tagebuch: Ein persönlicher Einblick in den Alltag im Frauenhaus
Was erwartet mich wohl hinter der Türe des Frauenhauses AG-SO? Wie werde ich von den Klientinnen aufgenommen und mit welchen Geschichten und Emotionen werde ich konfrontiert? Mir gehen viele Fragen durch den Kopf, bevor ich am Montag Morgen einziehe. Ja, ich werde auch im Frauenhaus schlafen – mitten unter den Frauen, welche Schutz vor häuslicher Gewalt gesucht und gefunden haben. Und zugegeben: Etwas Bammel habe ich schon, einfach weil ich nicht weiss, was mich erwartet. Auf der anderen Seite bin ich gespannt auf die Eindrücke und Erlebnisse und hoffe, dass ich etwas Licht ins Dunkle bringen kann. Vielleicht auch im Hinblick darauf, dass das Thema Häusliche Gewalt nach wie vor ein Tabuthema und die Dunkelziffer sehr hoch ist. Es ist dringend notwendig, dass die Gesellschaft hier besser hinschaut.
Nicht jeder weiss sofort, was er sich unter einem Frauenhaus vorzustellen hat. Das Stichwort hier ist «häusliche Gewalt». Also etwas, bei dem man sich nicht nur wünscht, es passiere einem selber nie, sondern auch etwas, bei dem jeder Fall ein Fall zu viel ist. Es ist ein Zufluchtsort für Frauen, denen genau das widerfahren ist. Im Gegensatz zu den meisten Betroffenen beziehe ich mein Zimmer mit ziemlich viel Gepäck. Ich habe quasi alles dabei: Persönliche Kleidung, meine Kosmetikprodukte, mein Handy und gar Bücher. Viele der Schutz suchenden Frauen kommen aber nur mit einer Tasche hierher – oder komplett ohne etwas. In diesen Fällen steht eine kleine Erstausstattung bereit – das Nötigste an Hygieneartikeln und ein paar Kleider. Diese stammen komplett aus Spenden.
Am Nachmittag durfte ich Karin beim Einkaufen begleiten. Sie ist für die wöchentliche Menüplanung zuständig und bespricht mit den Bewohnerinnen die geplanten Mahlzeiten. Karin kümmert sich im Frauenhaus AG-SO aber nicht nur um das leibliche Wohl, sondern auch um alle anderen Hauswirtschafts-Dinge, von kaputten Möbelstücken bis zum fehlenden Toilettenpapier. Eine Einkaufstour mit ihr kann gut und gerne mal etwas länger dauern – je nach Belegung reicht ein einzelner Wocheneinkauf kaum. Gut gibt es zusätzlich die Möglichkeit, bei Grossverteilern online zu bestellen und liefern zu lassen. Dies hat gleich mehrere Vorteile: Karin muss nicht bis zu acht Tüten schleppen und fällt zudem beim Einkauf auch etwas weniger auf. Denn wer das Wägeli bis zum Rand füllt, erntet neugierige Blicke; ganz besonders in Pandemie-Zeiten, erzählt sie mir augenzwinkernd. Die Hauswirtschafterin ist aber routiniert und führt nicht zuletzt dank ihrer Erfahrung ein gut sortiertes Lager.
Mein zweiter Tag im Frauenhaus beginnt mit einem Weckerklingeln und einem ungläubigen Blick zur Uhr. Ich habe tatsächlich fast 8 Stunden durchgeschlafen. Es ist relativ kalt im Zimmer, das Haus ist schon ziemlich alt. Trotzdem hatte ich eine gute Nacht – nicht so wie andere Frauen unter diesem Dach. Ich erfahre später bei der Morgensitzung, dass Selin (Name geändert) gar nicht gut geschlafen hat. Die junge Frau vermisst ihre drei Kinder unglaublich fest und hat daher kaum ein Auge zugemacht. Selin erzählt mir später, dass sie in der Nacht von zuhause weg ist und ihre Kinder zurücklassen musste. Bei einem Gespräch mit der Beraterin Sina bespricht sie die Situation und das weitere Vorgehen. Diese und ähnliche Geschichten gehen mir kaum mehr aus dem Kopf.
Schon bald ist die Hälfte meiner Zeit im Frauenhaus vorbei. Am Abend konnte ich noch mit mehreren Frauen sprechen und habe bereits viel von ihren Geschichten erfahren dürfen. Für mich ist es nicht selbstverständlich, dass sich ein Grossteil der Frauen mir gegenüber mittlerweile bereits sehr offen verhalten und mir einen Einblick in ihre Gefühlswelt geben. Sie alle haben unterschiedliche Geschichten – doch eines verbindet sie immer: Häusliche Gewalt. Und ein damit einhergehendes Schicksal, nämlich quasi nochmals neu zu beginnen. Mit dem Entscheid ins Frauenhaus zu gehen lassen die betroffenen Frauen und Mütter einen grossen Teil ihres alten Lebens zurück.
Mit dem Neustart sind sie zwar zumindest vorübergehend in Sicherheit, jedoch ist damit noch nicht alles geschafft. Nun müssen eine Wohnung und allenfalls eine neue Arbeitsstelle gefunden werden, allenfalls stehen Gerichtstermine an, die Frauen müssen ihre Kinder versorgen und auch ihnen eine neue Perspektive bieten. Dass damit eigentlich die Hauptlast bei der von Gewalt betroffenen Frau liegt und nicht beim Täter, stimmt mich nachdenklich.
Mein 4. Tag ist angebrochen und ich habe mich schon etwas an den Alltag hier in diesem Haus gewöhnt. Morgens weiss ich nun, wo ich den Teller finde und wo man sich beim Brot bedienen kann. Das Frühstück essen alle hier zu mehr oder weniger unterschiedlichen Zeiten, je nach Schulbeginn der Kinder und anstehenden Terminen.
So treffe ich heute Morgen nur drei Frauen in der Küche. Bei der täglichen Sitzung der Mitarbeiterinnen erfahre ich, dass möglicherweise eine neue Klientin eintreten wird und weitere zwei Kinder mitbringt. Da läuft was, kann ich euch sagen! Die Kinder verstehen sich aber in der bestehenden Gruppe recht gut und sind mega herzlich im Umgang miteinander. Vom Kinderfachteam habe ich gelernt, dass es gerade den kleinen Bewohnern hier oftmals schnell wieder besser geht, weil es ihnen schon viel hilft, nicht mehr in diesem unsicheren Umfeld zuhause zu sein. Dies bedeutet aber natürlich noch lange nicht, dass das Erlebte verarbeitet ist. Dazu sind unter anderem eben auch Nadine und Anina da, welche die Kinder während Terminen der Mamis betreuen, mit ihnen Ausflüge machen oder sie beim Umgang mit der Situation unterstützen. Die Herzlichkeit der beiden jungen Frauen vom Kinderfachteam begeistert mich und ich erlebe auch mit, wie viel Vertrauen die Kinder in ihre Betreuerinnen haben.
Meine Zeit im Frauenhaus geht zu Ende, ich habe 4 Nächte und 5 Tage inmitten der schutzsuchenden Frauen verbracht. Sie haben mich teilhaben lassen an ihrem Alltag hier, haben mir Einblicke in ihre Gefühlslage und in ihre Geschichte gewährt. Allesamt waren sie offen zu mir und trotz all der Schwere haben wir viel gemeinsam gelacht. Humor kommt in diesem Haus – zumindest in der aktuellen Gruppe – nicht zu kurz. Was mich besonders beeindruckt hat ist die gegenseitige Unterstützung; die Frauen versuchen sich aufzubauen, motivieren sich untereinander. Denn: Enttäuschungen mussten alle hier bereits viele verkraften – sei es bei der täglichen Wohnungssuche oder bei Behördengängen. Dabei werden sie aber nicht alleine gelassen, es steht jeder Klientin eine Beraterin zur Seite, welche sich um organisatorische, rechtliche oder finanzielle Dinge kümmert bzw. gewisse Prozesse anstossen und die Frauen dabei begleiten.
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