BärnToday: Wie ist die aktuelle Lage in Syrien?
Ashraf Al Hafny: Ich will nichts zu den Zahlen sagen, weil sich diese laufend ändern. Wichtig ist, zu wissen, dass es in Syrien zwei Regionen gibt, die vom Erdbeben betroffen sind. Eine Region wird vom Regime kontrolliert, zu der ich nicht viel sagen kann. Die andere Region befindet sich im Nordwesten des Landes, grenzt an die Türkei und wird nicht vom Regime kontrolliert. In diesem Gebiet leben 4 Millionen Syrerinnen und Syrer, die durch den Bürgerkrieg vertrieben wurden. Die Leute dort litten schon vorher unter grosser Armut. Ein grosser Teil der Bevölkerung lebt in Zelten. Viele Gebäude sind abgenützt, weil es keine richtige administrative Verwaltung gibt. Es gibt immer wieder syrische und russische Luftangriffe auf dieses Gebiet. Und jetzt die Erdbeben. Laut Statistiken der Zivilschutzorganisation der Weisshelme, die als einzige Organisation den Menschen in dieser Region hilft, wurden etwa 300 Gebäude komplett zerstört. Zusätzlich sind 1024 Gebäude nicht mehr bewohnbar und drohen einzustürzen.
Gibt es grosse Unterschiede zwischen der Situation in der Türkei und der in Syrien?
Ja, die Türkei hat die Ausrüstung und die Rettungskräfte, die in dieser Situation benötigt werden. Zudem wird sie von mehreren Ländern unterstützt. Die Infrastruktur in Syrien ist wegen des bereits 12 Jahre andauernden Kriegs stark abgenützt. In Nordsyrien hat es einen Durchgang zum restlichen Syrien, der jedoch geschlossen ist. Der andere Durchgang führt in die Türkei, wo das Erdbeben ebenfalls gewütet hat. Dieses Gebiet wurde von beiden Seiten geschlossen und ist von allen Regionen am instabilsten.
Wieso hört man in westlichen Ländern viel über die Türkei, aber nur wenig über Syrien?
Weil die syrische Regierung, im Gegensatz zur Türkei, bis vier Tage nach dem Erdbeben weder den Notstand ausgerufen, noch Hilfe angefordert hat. Dazu kommt, dass das Ausmass der Zerstörung in den türkischen Regionen sehr gross ist und internationale Medien dort im Gegensatz zu Syrien vor Ort sind. Ausserdem unterscheidet die westliche Bevölkerung bei Krisen nicht zwischen Nordsyrien, das wegen der Nähe zum Epizentrum des Erdbebens grossen Schaden davontrug, und dem restlichen Syrien, das vom Regime kontrolliert wird. Die Regionen von Nordsyrien können den Notstand nicht ausrufen, weil sie kein eigenständiger Staat sind.
Hilft die syrische Regierung der Bevölkerung?
Die syrische Regierung ist mehr auf Profit aus, als zu versuchen, den Menschen zu helfen. Zur Erinnerung: Diese Regierung ist verantwortlich für die Vertreibung von Millionen von Syrerinnen und Syrern. In Syrien helfen bisher vor allem Jugendorganisationen, Familien von Betroffenen, das Rote Kreuz und der Rote Halbmond und andere Gemeinschaften. Vor einigen Tagen hat das Regime angekündigt, einen Hilfskonvoi nach Nordsyrien zu schicken, um internationale Unterstützung und Sympathien zu erhalten. Aus Erfahrung mit dem Regime wissen wir aber, dass das trügerisch ist.
Erhält die syrische Bevölkerung viel Hilfe von anderen Ländern?
Es ist nicht überall gleich. Die Regierung erhält die Hilfeleistungen von mehreren arabischen und westlichen Ländern, vom Syrischen Roten Halbmond, vom Schweizerischen Roten Kreuz und von anderen internationalen Organisationen. Die nördliche Region hat bisher hingegen weder Hilfsgüter noch Rettungskräfte noch logistische Unterstützung erhalten. Wir haben Länder, Regierungen, die Uno und das Schweizer Aussendepartement darum gebeten, so schnell wie möglich einzugreifen und bei der Suche zu helfen, aber auch Tage nach der Katastrophe hat niemand auf den Hilferuf reagiert.
Wie können Schweizerinnen und Schweizer den Menschen in Syrien helfen?
Die Leute in der Schweiz sollten das Ausmass der Zerstörung und den Unterschied zwischen dem Regime-Gebiet und dem Gebiet im Norden von Syrien kennen.
Folgendes wird benötigt:
- Spezialisierte Rettungskräfte inklusive Ausrüstung
- Lebensmittel und Unterkünfte für Menschen, die ihr Zuhause verloren haben und draussen leben
- Psychologische Unterstützung
- Hilfe bei der Instandhaltung der Häuser
- Dringende Hilfeleistungen der Schweizer Regierung für Syrien und vor allem für Nordsyrien
- Kühlschränke für die Leichen
- Unterstützung bei den Exhumierungen und würdevollen Begräbnissen
- Nutzung der diplomatischen Beziehungen der Schweiz, um sicherzustellen, dass die Hilfeleistungen durch die Uno fair verteilt werden
- Freiwillige Helfer für die betroffenen Regionen
- Dringende medizinische Hilfe und Verletztentransporte zu Spitälern für Behandlungen
Gibt es sonst noch etwas, das Sie zur Situation in Syrien sagen wollen?
Gestern haben wir um Hilfe für die betroffenen Leute gebeten, heute bitten wir um Hilfe für deren Beerdigung.