Mittelland

«Ich kann nicht mehr»: Schreibabys bringen Eltern an ihre Belastungsgrenze

Kanton Bern

«Ich kann nicht mehr»: Schreibabys bringen Eltern an ihre Belastungsgrenze

· Online seit 16.03.2023, 11:49 Uhr
Der Fall des Breitenbacher Babys, das im Alter von acht Wochen geschüttelt wurde, schlägt hohe Wellen. Das Baby hat dabei lebensbedrohliche Verletzungen erlitten. Astrid Held, Beraterin Frühe Kindheit, erklärt im Interview, wie es erst gar nicht so weit kommen muss.
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Wenn ein Säugling exzessiv schreit, kann das die Eltern-Kind Beziehung massiv belasten. In jedem Fall bringt ein Baby, das sich kaum mehr beruhigen lässt, die Eltern an ihre Grenzen und verunsichert sie zutiefst. Gut zu wissen, dass es Hilfe gibt. Im Kanton Bern gibt es ein neues Beratungsangebot, die Schreibaby-Sprechstunde. Wir haben mit Astrid Held, Beraterin Frühe Kindheit, darüber gesprochen, was ein Schreibaby ausmacht und in welcher Form Eltern geholfen wird.

Frau Held, wann spricht man von einem Schreibaby?

Aus der Forschung gibt es eine Faustregel nach Wessel, die besagt, dass man von einem Schreibaby spricht, wenn ein Säugling an mindestens drei Tagen die Woche während mehr als drei Stunden pro Tag weint und dies in einem Zeitraum von drei Wochen. Aber viel wichtiger als diese Regel ist das subjektive Empfinden der Eltern. Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass ihr Kind sehr viel weint, dann nehmen wir das sehr ernst, auch wenn diese Dreier-Regel nicht erfüllt ist. Wir nehmen die Eltern dann in unsere Schreibaby-Sprechstunde.

Was passiert in Ihrer Sprechstunde?

Wir nehmen die Situation sehr ernst und schauen, was die Ursache sein könnte und welche Beruhigungsstrategien die Eltern bisher hatten. Wir klären ab, ob das Baby als gesund erklärt wurde vom Kinder- oder Hausarzt. Dann schauen wir systemisch, wie die ganze Schwangerschaft verlaufen ist, wie der Start war, ob alle gesund sind oder irgendwelche psychischen Schwierigkeiten bestehen auf Seite der Eltern. War vielleicht die Schwangerschaft ganz schwierig? Wir klären also erst mal die Ursache ab. In einem zweiten Schritt schauen wir mit den Eltern, wie sie das Baby bisher zu beruhigen versuchten und welche Strategien es zusätzlich noch gibt. Wann hat das Baby beispielsweise gute Phasen und was machen die Eltern in diesem Moment mit dem Kind? Wann hat es die Schreiphasen? Viele Eltern zweifeln an ihren Fähigkeiten, weil sie das Kind nicht beruhigen können.

Was können die Ursachen für ein Schreibaby sein?

Grundsätzlich muss das Kind erst einmal medizinisch als gesund erklärt werden. Es gibt verschiedene Unverträglichkeiten, die der Arzt abklären muss, zum Beispiel eine Milchunverträglichkeit. Erst wenn das ausgeschlossen ist, nehmen wir die Eltern in die Sprechstunde auf. Ursachen könnten dann eine schwierige Elternkonstellation sein, Konflikte in der Partnerschaft, die Schwangerschaft, die sich schwierig gestaltete oder psychische Belastungen auf Seite der Eltern. Auf Seite des Kindes kann es Anpassungsschwierigkeiten geben. Das kann auf das Temperament des Kindes zurückzuführen sein. Es kann aber auch sein, dass es sich um ein sehr waches und aufmerksames Kind handelt, das schnell überfordert ist und sich dann nicht anders ausdrücken kann als mit Schreien.

Wann ist man aus dem Gröbsten raus?

Es gibt das normale Schreiverhalten und das exzessive Schreiverhalten. Beim normalen Schreiverhalten startet das meist so zwei bis drei Wochen nach der Geburt. Die Zeit des Schreiens steigert sich häufig bis zur siebten Lebenswoche, von da weg nimmt es wieder ab bis zur ungefähr 14. Lebenswoche. Dies tritt bei etwa 80 Prozent der Kinder auf. Häufig legen diese Babys in den Abendstunden eine Schreistunde ein. Das gehört zum physiologischen Schreien und ist ein wichtiges Element des Bindungsaufbaus. 20 Prozent der Kinder aber, die in dieser Zeit schon viel weinten, weinen dann noch weiter und die Phasen dauern an. Es ist sehr wichtig, dass man hinschaut, wenn sich das abzeichnet.

Leidet das Schreibaby?

Die Forschung besagt, dass ein Kind, welches als medizinisch gesund erklärt wurde, körperlich nicht leidet. Emotional kann es aber schon leiden. Das Baby kriegt sehr viel Aufmerksamkeit wenn es schreit, weil die Eltern alles versuchen, das Kind zu beruhigen. Man trägt und schaukelt das Kind durch die Wohnung oder versucht mit Ablenken, das Kind vom Weinen abzubringen. Die Eltern kommen in einen Bewegungsaktivismus und stimulieren dadurch das Kind nur noch mehr. Ein Teufelskreis. Das führt dazu, dass die Eltern kaum mehr Energie haben, wenn das Baby dann mal ruhig ist. Das Kind erfährt also keine Aufmerksamkeit, wenn es ruhig ist. Dies führt zu einem negativen Aufmerksamkeitskreislauf. Dem möchten wir entgegenwirken. Wann zeigt das Baby Zeichen der Aufmerksamkeit und wie feinfühlig interagieren dort die Eltern – das möchten wir unterstützen.

Zeigen Schreibabys später andere Verhaltensauffälligkeiten?

Die Forschung zeigt hier keinen Zusammenhang. Es gibt Tendenzen, aber die ganze Säuglings- und Kinderforschung steckt noch in Kinderschuhen. Was jedoch klar ist: Wenn ein Kind emotional von Anfang an viel Aufmerksamkeit bekommt, wenn es schreit, dann lernt es das Verhaltensmuster, dass es viel dafür tun muss, um die Aufmerksamkeit der Eltern zu erhalten.

Mit welchen Mitteln versuchen sie den Eltern zu helfen?

Wir arbeiten unter anderem auch mit einem Schreiprotokoll. Das gibt gut Auskunft darüber, wann und wofür das Kind Aufmerksamkeit erhält. Wir überlegen dann, welche und wie viele Beruhigungsstrategien nötig sind und lernen den Eltern die Methode des gestuften Tröstens. Das funktioniert so: Die Eltern gehen zum schreienden Baby, nehmen es jedoch noch nicht in den Arm. Sie sind einfach mal daneben und reden beruhigend mit dem Kind. Ist das nicht hilfreich, dann können sie erst mal die Hand oder die Füsschen berühren und beobachten, ob das Kind sich so schon beruhigen lässt. Und so geht das Stufe für Stufe weiter. Ein weiteres sehr hilfreiches Instrument das wir nutzen, ist die videogestützte Interaktionsbeobachtung. Anhand der Videos können wir den Eltern im konkreten Fall so z.B. auch aufzeigen, dass sie vieles bereits gut machen. Das ist wichtig, um das Selbstvertrauen der Eltern aufzubauen.

veröffentlicht: 16. März 2023 11:49
aktualisiert: 16. März 2023 11:49
Quelle: 32Today

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