Mittelland

«Mit den Augen hören»: Ein Einblick in die Welt der Gebärdensprache

Welttag der Gebärdensprache

«Mit den Augen hören»: Ein Einblick in die Welt der Gebärdensprache

· Online seit 23.09.2023, 11:02 Uhr
In der Schweiz leben rund 10'000 Gehörlose und rund eine Million Menschen mit einer Hörbeeinträchtigung. Am Samstag ist der internationale Tag der Gebärdensprache. Ein Grund, um auf die Muttersprache der Gehörlosen aufmerksam zu machen.

Quelle: Radio 32

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Ihre Welt ist ganz ruhig: Kein Vogelgezwitscher, kein Blätterrascheln, kein Meeresrauschen. Doch gehörlose Menschen nehmen vieles um sich herum wahr, und ihre visuelle Wahrnehmung ist umso schärfer.

Zwei Mitarbeitende der Stiftung Procom geben uns zum internationalen Tag der Gebärdensprache einen Einblick in die Welt der gehörlosen Menschen. Christian Gremaud arbeitet als Verantwortlicher Kommunikation. Er ist selbst gehörlos und wird bei unserem Interview von einer Dolmetscherin begleitet. Roman Probst ist der Vorsitzende der Geschäftsleitung und mit gehörlosen Eltern aufgewachsen.

Christian, erzähl mal, was ist die Gebärdensprache eigentlich?

Christian: Die Gebärdensprache ist eine eigenständige Sprache der gehörlosen Menschen. Weil gehörlose Menschen die Sprache nicht über das Ohr aufnehmen können, brauchen sie eine visuelle Sprache. Mit der Gebärdensprache kann alles so kommuniziert werden wie mit der Lautsprache auch. Ohne Gebärdensprache sind gehörlose Menschen völlig überfordert – mit der Gebärdensprache können sie am alltäglichen Leben teilnehmen. Es ist eine vollwertige Sprache wie jede andere auch.

Was gehört denn alles zur Gebärdensprache?

Christian: Die Gebärdensprache hat, wie andere Sprachen auch, eine Grammatik. Wir können mit den Gebärden jeweils eine Situation in den Raum malen. Es gibt jeweils Verortungen in einem Raum, die zueinander Bezug nehmen. Die Mimik und die Emotionalität sind in der Gebärdensprache sehr wichtig. Auf diese Art und Weise können Gefühle wie Freundlichkeit, Freude, Ärger und so weiter dargestellt werden. Die Intensität ebendieser Gefühle kann man bei uns im Gesicht ablesen.

Die Gebärdensprache gewinnt an Popularität. Teilst du diesen Eindruck?

Christian: Ja, man kann fast sagen: Corona sei Dank. Früher wurden Pressekonferenzen für uns nie übersetzt, mit der Pandemie im 2020 ist das zum ersten Mal möglich geworden. Wir gehörlosen Menschen bekommen die wichtigen Informationen ansonsten nicht mit. Dafür haben wir lange gekämpft. Es läuft noch nicht perfekt, wir haben noch viele Forderungen, damit wir in Zukunft noch besseren Zugang bekommen. So, dass wir schlussendlich mit den hörenden Menschen gleichgestellt sind.

Roman, wenn ich daran denke, die Gebärdensprache zu erlernen, kommt in mir ein Gefühl der Überforderung hoch. Wieso ist das so?

Roman: Weil es unbekannt ist. Die Menschen haben immer Respekt vor Dingen, die sie nicht kennen und gehen gerne auch den Weg des geringsten Widerstands. Das finde ich sehr schade, denn die gehörlosen Menschen sind sehr bereichernd für uns. Es ist gar nicht so schwierig, die Gebärdensprache zu lernen, es passiert sehr viel intuitiv.

Was gibt es für Angebote, um die Gebärdensprache zu lernen?

Roman: Verschiedene. Zum Beispiel gibt es einen Bachelorstudiengang, mit dem man Gebärden-Dolmetscher werden kann. Auch gibt es Angebote in französischer oder italienischer Gebärdensprache. Die wichtigsten Gebärden kann man sich auch in einem kleineren Kurs als Hobby aneignen.

Christian, wie bei der Lautsprache gibt es auch bei der Gebärdensprache unterschiedliche Sprachen. Wie muss ich mir das vorstellen?

Christian: Ja, es gibt unterschiedliche Gebärdensprachen. Ich kenne beispielsweise die französische Gebärdensprache, das ist meine Muttersprache. Die deutschsprachige und die amerikanische Gebärdensprache habe ich zusätzlich gelernt. Auch die italienische Gebärdensprache beherrsche ich ein wenig. Die deutsche Gebärdensprache zum Beispiel ist auch nicht überall gleich, es gibt Unterschiede von der Schweiz zu Deutschland und Österreich.

Es hängt davon ab, in welchem kulturellen Kontext jemand aufwächst. In Asien zum Beispiel essen sie mit Stäbchen – aus diesem Grund ist auch die ganze Motorik anders, die das dann darstellt. Wir Gehörlosen verstehen uns aber trotz sprachlicher Differenzen viel besser und schneller als in der Lautsprache. Dies, weil wir visuell kommunizieren und wir dadurch viel schneller erahnen können, was das Gegenüber erzählen möchte.

Was sind deiner Meinung nach die wichtigsten Wörter in der Gebärdensprache?

Christian: Man kann es damit vergleichen, wenn man zum Beispiel in ein anderes Land reist. Dann sind Wörter wie «Hallo», «schlafen» oder «essen» wichtig. Menschen mit Lautsprache brauchen ja auch die Hände zum Sprechen, das sind dann schon eine Art Gebärden. «Schlafen» wird mit den beiden flachen Händen an der Wange gezeigt oder «essen» mit der Hand zum Mund. Die Italiener beispielsweise sprechen ja viel mit den Händen. Wenn ich in Italien bin, fällt es mir sehr leicht, die Menschen zu verstehen. Das empfehle ich allen Menschen: Versucht es einfach.

Roman, du selbst bist hörend. Deine Eltern sind aber auf die Gebärdensprache angewiesen. Wie war das für dich als Kind?

Roman: Ich mag mich gut erinnern, als mit ungefähr vier oder fünf Jahren festgestellt habe, dass es einen Unterschied gibt zu der Gebärdensprache und dem Schweizer Mundart. Für mich war das ein Schock, das konnte mir ja in diesem Alter noch niemand richtig erklären. Aber das ist definitiv ein Erlebnis, das prägend ist. Auf Aufnahmen, wie ich als Zweijähriger spreche, fällt auf, dass ich wie ein gehörloser Mensch rede. Das war halt meine erste Sprache.

Was waren Momente, in denen du vielleicht als hörendes Kind mit gehörlosen Eltern angestossen bist?

Roman: Angestossen ist vielleicht etwas übertrieben, aber ich habe sicher gespürt, dass eine gewisse Unsicherheit vorherrscht. Die Menschen sind ja nicht per se negativ gegen Gehörlose eingestellt. Sie wissen einfach nicht so genau, wie man mit ihnen umgeht. Früher waren die Hemmungen vielleicht noch etwas grösser. Ob man hört oder nicht, ist für mich einfach ein «Feature». Es könnte ja auch sein, dass ich nichts sehe oder nicht gehen kann. Es hindert mich nicht daran, ein Mensch zu sein, der etwas lernen kann. Man muss sich einfach bewusst sein, dass es einen Unterschied gibt. Nicht hören zu können ist eine Einschränkung, die einem den Zugang zur Gesellschaft ein Stück weit verwehrt.

Das Aufwachsen in einem solchen Umfeld bringt aber sicher auch Vorteile mit sich, oder?

Roman: Als ich klein war, habe ich mir häufig gedacht, warum genau ich gehörlose Eltern habe. Heute sage ich «Gott sei dank bin ich derjenige, der gehörlose Eltern hat». Ich habe ihnen so viel zu verdanken. Alles, was ich heute bin, habe ich meinen Eltern zu verdanken. Es ist so wertvoll für mich, diese Erfahrung mitnehmen zu können.

Ich werde immer gerühmt für meine Sprachkenntnisse. Ich kann sieben oder acht Sprachen fliessend. Die Leichtigkeit, zwischen der einen und der anderen Sprache zu wechseln, ist mir gegeben, weil ich das als Kind immer machen musste. Ich hatte gar keine andere Wahl. Ausserdem kann ich durch den Fokus der Gebärdensprache auf das Visuelle Menschen sehr schnell lesen und einordnen, wie sie sich fühlen. Das war ein extremer Vorteil in meiner persönlichen und beruflichen Laufbahn.

Christian, es hat sicher auch schon lustige Momente gegeben. Erzähl uns mal von einigen Beispielen aus deinem Alltag.

Christian: Da gibt es so viele unterschiedliche Momente, die mir einfallen. Ich treffe so häufig auf Leute, die keine Ahnung haben, dass ich gehörlos bin und nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Dann erkläre ich ihnen, dass ich nichts höre und dass sie mir die Informationen gerne aufschreiben oder mit Pantomimen darstellen sollen. Wenn sich die Leute darauf einlassen, funktioniert das gut. Dann geht bei vielen ein «Lämpli» an und sie freuen sich, dass sie etwas geschafft haben, das sie noch nie gemacht haben. Ich habe schon Anrufe von Leuten erhalten, die dann gemerkt haben, dass das ja gar nicht geht. Und so gibt es ganz viele Beispiele.

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veröffentlicht: 23. September 2023 11:02
aktualisiert: 23. September 2023 11:02
Quelle: 32Today

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