Mittelland

Katholische Kirche in Solothurn: Interview zu Missbrauchsstudie

Was hat sich geändert?

So erlebt eine katholische Mitarbeiterin den Missbrauchsskandal

02.02.2024, 20:30 Uhr
· Online seit 02.02.2024, 16:49 Uhr
Eine Studie der Universität Lausanne zeigte, dass es innerhalb der katholischen Kirche in den letzten 70 Jahren rund 1000 Missbrauchsfälle gab. Was eine Mitarbeiterin der katholischen Kirche im Kanton Solothurn von der Studie hält und wie sich der Skandal auf ihre Arbeit ausgewirkt hat? Sie erzählt es im Interview.
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Tanja Pürro ist Pastorale Mitarbeiterin im Pastoralraum Mittlerer Leberberg. Sie ist zuständig für alles, was mit der Digitalisierung zu tun hat: Streaming, Social Media und Youtube. Auch hilft sie bei den Vorbereitungen für die Taufe, arbeitet mit Ministrantinnen und Ministranten und begleitet auch Ehrenamtliche.

Wie war das für dich, als die Studie herauskam?

In mir kam eine Unsicherheit auf, denn die Studie konnte positiv herauskommen oder negativ. Das Resultat der Studie hat mich aber nicht wahnsinnig überrascht, dennoch habe ich mich etwas allein gefühlt: Wir konnten es im Team nicht direkt besprechen, da unser Pfarrer gerade in einem vierwöchigen Kurs war. Ich bin wahnsinnig traurig und wütend und fühle mich jeweils auch sehr machtlos, wenn ich höre, dass jemand seine Macht missbraucht. Und Machtmissbrauch passiert leider häufig auf der Welt.

Hat sich etwas an deiner Arbeit oder deinem Glauben seit der Studie verändert?

Ich habe beim Arbeiten gemerkt, dass sich da eine Hemmschwelle bei mir aufgebaut hat. Es fängt schon bei kleinen Sachen an: Wenn ich zum Beispiel ein Gebet anleite, dann frage ich mich, ob ich das darf oder ob ich den Leuten so etwas aufdrücke. Ich weiss natürlich, dass ich nichts aufdrücke, aber dennoch ist dieses Gefühl da. An meinem Glauben hat sich nichts geändert: Egal, was passiert, es nimmt keinen Einfluss auf das, was ich glaube. Ich bin katholisch aus Überzeugung, im Katholischen fühle ich mich zu Hause.

Was unternimmt die offizielle Kirche jetzt?

Es wurde schon früher mehr gemacht, als die Leute den Eindruck haben. Schon vor zwanzig Jahren hat die Bischofskonferenz in der Schweiz sich mit dem Thema auseinandergesetzt. Es wurden Präventionsschulungen eingeführt, die verpflichtend sind. Seit einigen Jahren gibts im Bistum Basel auch eine externe Koordinationsperson, eine Rechtsanwältin, die sich diesen Fällen annimmt. Wir haben nun neue Weisungen bekommen vom Bistum. Es ist ganz klar geregelt, was passiert, wenn sich Leute vergehen, es hat ganz klar Konsequenzen, auch personell. Eine weitere Weisung ist zudem: Wenn jemand etwas mitbekommt von sexueller Gewalt, muss er oder sie es dieser Koordinationsperson melden. Natürlich ist es dann schwierig zu beweisen, wenn jemand etwas mitbekommen hat und wo Menschen sind, passieren auch Fehler. Dennoch hat die Kirche nun ein klares Zeichen gesetzt, dass so etwas nicht toleriert wird. Und ich appelliere, dass wir alle ein solches Vergehen melden.

Findest du, die offizielle Kirche macht genug?

Es brauchte die Studie, um jeden Einzelnen darauf hinzuweisen, dass man genau hinschauen muss. Was mich stört: In der Studie wird zwar von 1000 Fällen in 70 Jahren gesprochen, aber man sieht nicht, ob es eine Entwicklung gab. Man sieht nicht, ob es in den 70 Jahren mehr oder weniger wurde. Wie gesagt: Es wurde schon so viel von der Kirche unternommen in der Vergangenheit, man schaut mehr hin als vor 70 Jahren. Ich hoffe und vermute, dass die Fälle abgenommen haben. Und was dazu kommt sind auch Unterschiede in den Generationen und damit ein anderes Verständnis. Es ist vielleicht ein krasses Beispiel: Wenn ich mit älteren Menschen rede, dann höre ich Aussagen wie, dass es früher normal gewesen sei, einer Serviertochter den Po zu tätscheln. Solche Aussagen schockieren mich und die Jungen würden das wohl sogar noch kritischer sehen.

Apropos Nähe und Distanz: Wie ist diese in der Kirche heute geregelt? Da gab es sicher auch Veränderungen.

Die gab es tatsächlich. Da sind wir schon vor 10 bis 15 Jahren sensibilisiert worden. Zum Beispiel bei den Ministranten. Früher haben die Sakristane an den weissen Gewändern der Ministranten noch herumgezogen und sie zurechtgerückt. Sie haben geholfen mit dem Reissverschluss und beim Umbinden vom Gurt. Fragt heute ein Ministrant um Hilfe wegen der Kleidung, so verweist man ihn an einen anderen Ministranten und legt nicht mehr selbst Hand an.

Was hast du eigentlich für Reaktionen wegen der Studie erlebt?

Es gab extrem wenig Reaktionen. Ich hatte innerhalb der Woche einen Anlass und hatte echt Angst davor. Zum Beispiel, dass man mit mir nichts mehr zu tun haben will. Aber die Reaktionen blieben komplett aus. Ich werde sehr selten darauf darauf angesprochen. In den wenigen Gesprächen merkte ich aber, dass nicht gross differenziert wird: Es werden alle katholischen Seelsorgerinnen und Seelsorger in einen Topf geworfen. Auch die Kirchgemeinden, in denen nichts passiert ist. Und es wird dann schnell gesagt: Man sollte keine Kirchensteuer mehr zahlen, aber dass damit zum Beispiel auch mein Lohn und der anderer bezahlt wird, das überlegt man nicht. Auch sollte man sich bewusst machen, dass der Machtmissbrauch nicht nur ein kirchliches Problem ist.

Wie meinst du das?

Mir ist aufgefallen: Praktisch zeitgleich zur Studie gab es weitere Berichte von Missbrauchsfällen, und zwar ausserhalb der Kirche, wie etwa in Sportvereinen. Es zeigt: Der Machtmissbrauch ist nicht ein kirchliches Problem, sondern viel mehr ein gesellschaftliches Problem.

Gab es bei euch auf die Studie hin mehr Austritte?

Ja, es gab mehr Austritte, aber es waren keine darunter, die mich erstaunt hätten. Ich denke, es lag nicht nur an der Studie, dass es Austritte gab. Ich glaube, bei den betroffenen Personen haben sich gleich mehrere Gründe angesammelt: Zum Beispiel, dass man sich nicht im Glauben widergespiegelt sah und auch Geld sparen wollte. Dann kam die Studie und das war sozusagen der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Zum ersten Mal gibt es in der Schweiz mehr Atheisten als Menschen, die der katholischen Kirche angehören. Auch haben die Kirchen wegen des Mitgliederschwunds mit finanziellen Problem zu kämpfen. Macht dir die aktuelle Situation Angst?

Ich finde, wenn man zu einer Kirche gehört, muss man den Glauben leben. Dass so viele aus der Kirche austreten, ist eine Momentaufnahme der aktuellen Gesellschaft: Die Kirche spielt bei vielen Leuten keine grosse Rolle mehr im Leben. Aber natürlich ist es schade. Ich finde es toll, mit möglichst vielen Menschen meinen Glauben teilen zu können. Und was das Finanzielle anbelangt: Wegen mir mache ich mir keine Sorgen, ich hätte alternative Möglichkeiten.

Etwas, über das sogar in der katholischen Kirche selbst heftig debattiert wird, ist das Zölibat. Es gibt jene, die es nicht mehr zeitgemäss finden es abschaffen möchten, andere wollen es unbedingt erhalten. Du gehörst zu den Vertreterinnen, wieso?

Ich sehe viele Chancen darin, ich lebe selbst über 20 Jahre quasi zölibatär. Es gibt auch Schönheit in dieser Lebensform. Und es gibt auch Berichte aus dem Deutschen über Missbrauch in der reformierten Kirche, also in einer Kirche, in der Priester heiraten dürfen. Das zeigt: Das Zölibat abzuschaffen, löst das Problem des sexuellen Missbrauchs nicht.

Warum ist es dir wichtig, öffentlich über die Kirche zu sprechen?

Ich habe manchmal den Eindruck, dass unsere Stimme, unsere Emotionen gar nicht gehört werden wollen. Man redet gern über uns, aber nicht mit uns. Dabei hängt unsere Existenz davon ab und wir machen uns auch Gedanken, wie es weitergeht. Wir unterstützen sicher nicht alles, was in der Vergangenheit passiert ist. Ich will mich nicht rechtfertigen, ich will einfach ernstgenommen werden als Mensch wie alle anderen auch.

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veröffentlicht: 2. Februar 2024 16:49
aktualisiert: 2. Februar 2024 20:30
Quelle: 32Today

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