«Wort von Polizisten zählt nichts»

Verhaftung auf Bahnhofplatz in Bern: Polizist wegen zu grobem Einsatz in Bern verurteilt

05.09.2023, 22:07 Uhr
· Online seit 05.09.2023, 15:14 Uhr
Zwei Polizisten der Kantonspolizei Bern mussten sich wegen Amtsmissbrauch und Tätlichkeiten vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland verantworten. Sie sollen bei einer Verhaftung in der Stadt Bern zu grob und unverhältnismässig vorgegangen sein. Ein Mann wurde freigesprochen, der andere verurteilt.
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Ein Mann wehrt sich gegen die Verhaftung, ein Polizist bringt ihn zu Boden und legt ihm die Handschellen an – sein Knie auf dem Nacken. Ein anderer Polizist soll ihn danach unsanft in den Polizeiwagen geschubst haben. Der Fall, der sich im Juni 2021 auf dem Bahnhofplatz Bern ereignete, sorgte schweizweit für Schlagzeilen.

2023 mussten sich die beiden Polizisten der Kantonspolizei Bern vor Gericht verantworten. Sie beteuerten an den beiden Prozesstagen ihre Unschuld und beharrten darauf, dass die Gewalt verhältnismässig gewesen sei.

Ein Mann schuldig, der andere frei gesprochen

Der erste Polizist soll bei der Verhaftung zu grob vorgegangen sein. Er war angeklagt, weil er einen Kniestoss, eine polizeiliche Ablenkungstaktik, ausgeführt hat und sein Knie im Hals- und Nackenbereich des Verhafteten war. Dieser hatte ausgesagt, dass er dadurch Atemnot erlitten habe. Für die Verhaftung wurde der Mann grob zu Boden gebracht. «Die Richterin sagte, dass das Knie auf dem Hals nicht verhältnismässig ist und darum objektiv ein Amtsmissbrauch», erklärt Opferanwalt Dominic Nellen. «Aber der Polizist wollte es nicht, hatte also keinen Vorsatz. Darum musste sie ihn freisprechen.»  Dass es in der Hitze des Gefechts geschah, ist ausschlaggebend: Der Mann hatte sich so sehr gewehrt, dass sich der Polizist sogar am Daumen verletzt hatte. Der Polizist wird vom Gericht in beiden Anklagepunkten freigesprochen.

Das Verfahren sei für den Polizisten schwierig gewesen, sagt Anwalt Alain Langenegger. Besonders die heftige Berichterstattung sei belastend gewesen. «Somit ist der Freispruch für ihn eine grosse Genugtuung und Entlastung.

Verteidigerin: «Wort von Polizisten zählt nichts mehr»

Der zweite Polizist war angeklagt, weil er den Verhafteten in den Polizeiwagen gestossen haben soll und dadurch unverhältnismässige Gewalt angewendet habe. Er habe den Mann danach nicht betreut. Die Zeugenaussagen der anwesenden Polizisten und Journalisten gingen stark auseinander. Das Gericht sieht den Tatbestand als erfüllt an und spricht den Polizisten schuldig. Die Richterin beschreibt die Aktion als «absolut verwerflich und inakzeptabel.» Der Mann wird zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 110 Franken verurteilt, die Probezeit beträgt zwei Jahre. Weiter muss er eine Busse von 600 Franken und einen Teil der Verfahrenskosten, die sich auf über 10'000 Franken belaufen, bezahlen. Seine Verteidigerin Sarah Schläppi sagt gegenüber TeleBärn: «Wir sind natürlich sehr enttäuscht.» Sie hätten es anders erwartet. Auch nehme sie zur Kenntnis, dass «offenbar das Wort von zwei Polizisten, die ausgesagt haben, nichts mehr zählt.»

Sicherheitsdirektor Philippe Müller erleichtert

Auch der Berner Sicherheitsdirektor, Regierungsrat Philippe Müller, sei erleichtert über den Freispruch, schreibt die Staatskanzlei in einer Medienmitteilung am Dienstagnachmittag. Zum Urteil über den zweiten Polizisten schreibt sie: «Die Kantonspolizei und die Sicherheitsdirektion werden das Urteil analysieren und die nötigen Schlüsse daraus ziehen.»

Die Richterin hatte von einer «abscheulichen» Tat gesprochen. Der Anwalt des Opfers, Dominic Nellen, sagt zum Urteil: «Es ist für meinen Klienten nicht eine Genugtuung, aber wenigstens eine Anerkennung des Leides, dass er auf dem Bahnhofplatz erlebt hatte.»

Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Es kann Berufung eingelegt werden. Die Details zum Prozess kannst du hier nachlesen.

(ade)

veröffentlicht: 5. September 2023 15:14
aktualisiert: 5. September 2023 22:07
Quelle: BärnToday

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