Im Bremgartenwald

«Wir sind Teil der Natur»: Ein Sommerbesuch bei den Berner Waldmenschen

24.07.2023, 08:46 Uhr
· Online seit 22.07.2023, 08:12 Uhr
Im Bremgartenwald lebt seit mehreren Jahren eine Gruppe Menschen – (fast) abseits der Gesellschaft. Sie werden die «Waldmenschen» genannt. Wie sieht ihr Leben im Sommer aus? Sie geben einen Einblick.

Quelle: BärnToday / Ilona Hutmacher / Warner Nattiel

Anzeige

Im Westen der Stadt Bern liegt der Bremgartenwald – bis zur Lichtung, wo die Waldmenschen leben, dauert es ein paar Minuten: Man geht einen Kieselweg entlang, über eine Brücke und wird dann nach und nach von einem Blätterdach eingeschlossen. «Chrütli», mit vollem Namen Martin Wyss, und sein Mitbewohner Urs Baumgartner zeigen den Weg. Im Sommer sei das Leben im Wald einfacher, sagt Chrütli: «Durch die Blätter ist es immer angenehm kühl und schattig.»

Chrütli lebt seit 11 Jahren im Wald. Er war der erste der Gruppe. Seitdem sei von der ursprünglichen Konstellation ausser ihm niemand mehr übrig. Urs kam vor etwa drei Jahren dazu. Momentan besteht die Gruppe aus sieben Mitgliedern, sechs Männern und einer Frau.

«Wir Menschen gehören in den Wald»

Als Chrütli und Urs in einen Nebenweg abbiegen, tauchen auf einer Seite Hütten auf, abgedeckt mit Blachen. Chrütlis Hündin folgt den beiden aufgeregt, von hinten kommt ein Velofahrer – auch er ist ein Bewohner des Waldes.

«Wir Menschen gehören eigentlich in den Wald», sagt Chrütli. «Wir haben Jahrtausende im Wald gelebt. Wenn man immer die Schuhsohle zwischen dem Boden und den Füssen hat, wie kann man da geerdet sein?»

Links von den Hütten bauen die Waldmenschen Gemüse an. Daneben wächst eine Cannabis-Pflanze, etwa ein Meter hoch. Chrütli zeigt seine Hütte: Eine Ablage mit Essen, eine Feuerstelle im Boden und ein Zelt, in dem er schläft. Es werde hier nie sehr heiss, weil die Bäume genug Schatten erzeugen. «Wir können auch Bier kühlen», sagt Chrütli und zeigt einen Behälter mit Flusswasser aus dem Gäbelbach, in dem eine einzelne Dose Bier schwimmt.

Chrütli und Urs legen Decken auf ein Rasenstück vor der Hütte. Durch die Baumwipfel scheint das Sonnenlicht auf ihre langen Haare und ihre gebräunte Haut. Ohne viele Fragen gestellt zu bekommen, erzählen beide sofort gerne von ihrem Leben vor dem Wald und im Wald. Dabei geben sie einen Joint hin und her.

Baden, rauchen und reden

Vor seinem Leben als Waldbewohner hat Chrütli auf dem Bau gearbeitet. Irgendwann entschied er, dass er aus dem bisherigen Leben aussteigen will. «Man arbeitet sein ganzes Leben und hat am Ende doch nie Zeit für sich», sagt er. Durch viele Campingtrips mit seinen Eltern als Kind habe er gewusst, wie man Feuer macht und einen Unterschlupf im Wald baut. Und weil sein Vater Gärtner war, kenne er sich mit Kräutern aus – daher sein Spitzname. «Meine vorherige Identität als Martin Wyss habe ich hinter mir gelassen», sagt er.

Urs entschied sich für das Leben im Wald, nachdem er lange mit Depressionen gekämpft hatte. «Ich habe gar nichts mehr auf die Reihe bekommen, nicht einmal aufs Sozialamt zu gehen», sagt er. Durch den Ausstieg habe er es geschafft, das Leben von aussen zu betrachten und so seine psychische Gesundheit in den Griff zu bekommen.

«In der Leistungsgesellschaft ist man wie in einer Box», sagt Urs. «Jeder ist für sich, niemand schaut aufeinander, dafür ist alles überreguliert, mit Polizei und Ämtern. Menschen sollten etwas aus den Boxen herauskommen und zu sich selbst, zueinander und zur Natur zurückfinden.» Er sitzt auf einem Baumstamm im Halbschatten und grinst.

So wie jetzt sitzen die Waldbewohner im Sommer oft zusammen. «Wir gehen viel in der Aare baden, trinken Kaffee, rauchen und reden. Unsere Zeit können wir einfach für uns brauchen», sagt Chrütli.

«Nicht jeder muss im Wald leben»

Oft würden auch Leute vorbeikommen, die einfach für ein paar Nächte mit den Waldmenschen leben möchten. «Das ist schön», sagt Chrütli. «Man kann sich austauschen und jede Ansicht hat ihren Platz. So halten wir den Kontakt nach aussen.»

Chrütli und Urs haben beide ein Handy und gehen regelmässig bei Freunden und Verwandten duschen. Die Waldbewohner kaufen in Läden in der Nähe ein, manche von ihren arbeiten. Chrütli zum Beispiel hütet Hunde. Urs bekommt Geld vom Sozialamt. Dass sich nicht jede und jeder einfach so von der Gesellschaft abschneiden kann, verstünden sie. Vielen würde es schon helfen, wenn sie mehr Ausflüge in den Wald machen oder das Pensum im Job etwas reduzieren würden, findet Chrütli.

«Wir sind das extreme Beispiel, nicht jeder muss gleich im Wald leben. Was wir uns wünschen, ist, dass die Menschen umdenken.» Nach dem Gespräch setzen sie sich auf dem Boden in einen engeren Kreis. Die Hündin liegt in der Sonne, Chrütli dreht einen weiteren Joint.

veröffentlicht: 22. Juli 2023 08:12
aktualisiert: 24. Juli 2023 08:46
Quelle: BärnToday

Anzeige
Anzeige
32today@chmedia.ch