Die Ernährung hat in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Kürzlich zeigte eine Studie, dass mehr als drei Viertel der Personen in der Schweiz sagen, dass ihnen die Ernährung und Essen wichtig ist. Auf Verpackungen von Lebensmitteln sind meistens Mengenempfehlungen zu lesen. So heisst es darauf etwa: Eine Portion Pasta umfasst 80 bis 100 Gramm. Woher kommt das?
Ein Gesetz gibts nicht
Für Hersteller von Lebensmitteln gibt es keine gesetzlich definierten Portionsgrössen in Gramm oder Milliliter. «Hersteller oder auch Branchenverbände definieren die Portionsgrössen selbst», schreibt das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) auf Anfrage der Today-Redaktion. Viele stützten sich dafür auf Tagesrationen, die in der Verordnung des EDI über den Zusatz von Vitaminen, Mineralstoffen und sonstigen Stoffen in Lebensmitteln definiert sind.
Wenn nun auf der Packung freiwillig Portionsgrössen draufstehen, müssen die Hersteller laut BLV «die zugrunde gelegte Portionsgrösse oder Verzehreinheit quantifizieren». Dazu gehört auch, dass in der Packung enthaltene Portionen angegeben werden.
«Das ist alles Quatsch»
Der deutsche Ernährungswissenschaftler und Buchautor Uwe Knop hält nichts von diesen Portionsgrössen. «Es ist absolut individuell, was ein Mensch am Tag macht, was er isst, wie oft und wie viel davon», sagt er zur Today-Redaktion. Es sei eine Marketingmassnahme der Hersteller, um zu suggerieren, wie viele Portionen in einer Packung sind – beziehungsweise, dass mehr als eine Portion darin enthalten ist.
«Für den Menschen, für die Allgemeinheit, gibt es keine wirklichen Empfehlungen von konkreten Produkten oder Lebensmittelmengen», sagt Knop. Das sei immer individuell. «Das A und O ist, das zu essen, was man gut verträgt. Dazu abwechslungsreich, frisch und regional, wenns geht.» Nach Knop würden die internationalen Gesellschaften für Ernährung Empfehlungen stricken, um nicht sagen zu müssen, dass man eigentlich nichts darüber weiss, also keine belastbaren Beweise im Sinne «echter Kausalevidenz» hat.
Es gibt Korrelationen, aber keine Kausalität
Diese Meinung vertritt Uwe Knop auf der Basis seiner Analyse verfügbarer Daten. Er hat seit fast 15 Jahren aktuelle wissenschaftliche Studien analysiert und ausgewertet und der Konsens ist folgender: «Gesunde und ungesunde Lebensmittel gibt es als solche Einteilung nicht, genauso wenig wie Belege für gesunde Ernährung. Es gibt keine wissenschaftliche, kausale Evidenz dafür.» In der Ernährungsforschung berufe man sich auf Beobachtungsstudien und da gebe es zwar durchaus Korrelationen, die Vermutungen und Hypothesen erlauben – aber eben keine harte Evidenz.
Wer aus ethischen oder moralischen Gründen auf gewisse Lebensmittel verzichtet und so vegan oder vegetarisch lebt – oder auch Paleo, Keto etc. – soll dies laut Knop tun, solange man sich gut damit fühlt. Wichtig ist: Die Ernährung so gestalten, dass man im Einklang mit seinem Körper und Geist lebt und dabei langfristig zufrieden und gesund bleibt. Daher lautet Knops Credo: «Es gibt so viele gesunde Ernährungen wie es Menschen gibt, denn jeder Mensch is(s)t anders.»
«Portionsgrössen sind oft nicht realistisch»
Melanie Loessner ist ebenfalls Ernährungswissenschaftlerin und erklärt, dass die von den Herstellern angegebenen Portionsgrössen oft nicht realistisch sind. «Manchmal werden sehr kleine Portionen angegeben, um die Nährwertangaben im Rahmen zu halten.» Das sei insbesondere bei der Zucker- und Fettmenge der Fall. Loessner nennt auch ein Beispiel dazu: Bei einem Becher Joghurt ist die Gesamtmenge 180 Gramm, die Nährwerte werden aber für eine Portion von 100 Gramm angegeben. Man hat so zwar deutlich weniger Zucker in einer einzelnen Joghurt-Portion – aber wer isst nur ein halbes Joghurt?
Im therapeutischen Bereich werden deshalb vor allem mit übergewichtigen Personen Ernährungsschulungen gemacht, bei denen die Leute Cornflakes in eine Schüssel füllen, und zwar in derjenigen Menge, die sie essen würden. Dann wird die abgewogene Menge in der Schüssel mit der Angabe auf der Packung verglichen. Die Portionsangabe des Herstellers bei Cornflakes ist meist 30 Gramm. In der Schüssel befindet sich oft ein Vielfaches davon. So erkennen die Patienten, dass sie wegen der Portionsangabe auf der Packung das Gefühl haben, dass sie gar nicht so viele Kalorien zu sich nehmen, in der Realität der Kaloriengehalt aber viel grösser ist.
Immer mehr Essstörungen und Verhaltensauffälligkeiten
Loessner findet generell, dass die Portionsangaben ein hilfreicher Ansatz sein können, wenn man beim Kochen nicht weiss, wie viel man von einer Zutat zubereiten soll. Aber wenn man die Nährwerte damit erfassen will, sei das nicht sinnvoll. Das intuitive Essen – à la Uwe Knop – ist für die Expertin aber auch nicht die beste Lösung. «Das mag für viele Menschen gut funktionieren, aber wir nehmen immer mehr Essstörungen und Verhaltensauffälligkeiten im Bereich Essen war. Ich merke, dass viele Leute das normale Mass verlernt haben. Zudem nehmen wir uns für das Essen immer weniger Zeit, ernähren uns von hochverarbeitetem und kalorienreichem Take-Away-Food und merken nicht mehr, wenn wir satt sind.»
Die altbekannte Lebensmittelpyramide liefert für Loessner nach wie vor eine gute Basis. «Es ist kein sehr detaillierter Hinweis darauf, was man täglich essen soll, aber es ist eine gute Orientierungshilfe – auch bei vegetarischer Ernährung.» So seien mittlerweile zum Beispiel verschiedene Hülsenfrüchte als pflanzliche Eiweissquellen ergänzt worden.
Wie sehen die Mengen in der Realität aus?
Im Schweizer Ernährungsbulletin 2021 ist zum ersten Mal dokumentiert, wie viel wovon die Schweizer Bevölkerung isst. Die Ergebnisse stammen von der Schweizer Ernährungserhebung menuCH. Demnach konsumieren Personen in der Schweiz im Vergleich zu den Schweizer Empfehlungen grössere Mengen an Poulet und alkoholischen Getränken und kleinere Mengen an Hülsenfrüchten und Milchprodukten. Zudem isst die Schweizer Bevölkerung mehr rohe Früchte als die Mindestempfehlung, dafür aber weniger gekochtes und frisches Gemüse.