Syphilis-Infektionen

«Es braucht flächendeckende Gesundheitsangebote für Sexarbeitende»

21.12.2023, 09:50 Uhr
· Online seit 21.12.2023, 06:20 Uhr
Die Diagnose Syphilis erhielten 2022 nebst queeren Männern vor allem Sexarbeiterinnen. Ihr Zugang zu Gesundheitsangeboten ist erschwert – trotz erhöhtem Ansteckungsrisiko. Warum das so ist und was es braucht, damit sie besser geschützt sind.

Quelle: Spezielles Gesundheitsangebot für Sexarbeiterinnen in Luzern / Beitrag vom 1. September 2020 / Tele1

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1078 Personen haben sich im vergangenen Jahr mit Syphilis angesteckt, wie der Ende November erschienene Jahresbericht über sexuell übertragbare Infektionen (STIs) des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zeigt. Das ist ein Fünftel mehr als noch im Vorjahr. Zwar sind es vor allem Männer – jedoch hat sich der Anteil der Frauen in den letzten acht Jahren verdoppelt.

Dabei spielt Sex gegen Bezahlung dem BAG zufolge bei heterosexuellen Männern und Frauen eine grosse Rolle für die Übertragung von Syphilis.

«Syphilisinfektionen werden mehrheitlich bei MSM (Männer, die mit Männer Sex haben, Anmerkung der Redaktion) und Sexarbeiterinnen diagnostiziert», heisst es im Bericht des BAGs.

Sexarbeitende sind höherem Risiko ausgesetzt

Sexarbeitende haben mehreren Studien zufolge ein höheres Risiko, sich mit einer sexuell übertragbaren Infektion anzustecken als Menschen mit anderer Arbeit. Deshalb sind sie eine Fokusgruppe des Bundesamts für Gesundheit bei der Eindämmung von sexuell übertragbaren Infektionen. Das wurde erst kürzlich im neuen nationalen STI-Programm betont (siehe Infobox: So geht der Bundesrat gegen STIs vor).

Das BAG empfiehlt Frauen, die in der Sexarbeit tätig sind, darum, sich halbjährlich auf Syphilis zu testen. Einfach gesagt, aber gar nicht so einfach umzusetzen, wie Rebecca Angelini erklärt.

«Der Zugang von Sexarbeitenden zu Gesundheitsangeboten ist erschwert», sagt sie im Gespräch mit der Today-Redaktion. Angelini ist Geschäftsleiterin von Procore Schweiz, einem Netzwerk aus Anlaufstellen, das die Interessen von Sexarbeitenden in der Schweiz vertritt.

Es gibt mehrere Gründe, warum es für Sexarbeitende schwierig ist, an Gesundheitsangebote heranzukommen.

Darum ist der Zugang zu Gesundheitsangeboten für Sexarbeitende erschwert

Ein Faktor ist die Stigmatisierung der Sexarbeit, wie das BAG festhält. Das Bundesamt geht bei den Syphilis-Ansteckungen bei bezahltem Sex von einer Untererfassung aus, «da sowohl das Anbieten als auch die Inanspruchnahme bezahlter sexueller Dienstleistungen stark stigmatisiert sind», heisst es im STI-Bericht.

Das sieht auch Rebecca Angelini so. Für sie ist das Stigma, das an den Sexarbeitenden haftet, eine von vielen Hürden, welche den Zugang zur Gesundheit erschweren. Denn viele Sexarbeitende würden aufgrund von Vorurteilen demütigende Erfahrungen im Kontakt mit dem Gesundheitspersonal erfahren. Weitere Schwierigkeiten sind Angelini zufolge:

  1. Die prekäre Lage: «Sexarbeitende haben teilweise einen unsicheren Aufenthaltsstatus und meiden deswegen den Kontakt zu Institutionen», erklärt Angelini. Hinzu kämen oft sprachliche Barrieren oder gegebenenfalls auch Abhängigkeitsverhältnisse.
  2. Die hohe Mobilität: Sexarbeitende sind sehr mobil. «Heute arbeiten sie in St.Gallen, morgen im Thurgau.» Dies mache es für die lokalen Organisationen schwierig, sie zu erreichen und über ihre Gesundheitsangebote zu informieren. Ausserdem hat sich die Sexarbeit zu einem grossen Teil in den virtuellen Raum verschoben. «Auch das Internet macht an Kantonsgrenzen nicht halt», so Angelini. Die Organisationen müssten umrüsten, um die Sexarbeitenden auch im Internet zu erreichen.
  3. Die finanziellen Mittel: In der Stadt Zürich kostet ein Test auf HIV, Syphilis, Chlamydien und Gonorrhoe 165, in Luzern 120 Franken. Zwar übernimmt die Krankenkasse bei deutlichem Verdacht auf Ansteckung die Kosten, doch viele Sexarbeitende haben hohe Franchisen, sodass sie sich nicht leisten können, eine Infektion zu behandeln. Für die Procore-Geschäftsleiterin ist deshalb klar: «Tests und Behandlung sollten für Sexarbeitende, die es sich sonst nicht leisten können, kostenlos sein.» 

Auf Sexarbeitende spezialisierte Fachstellen gibt es nicht in ganzer Schweiz

Was dazu kommt: In einigen Regionen und Kantonen existieren keine auf Sexarbeitende spezialisierten Beratungsstellen, wie der Blick auf die Karte von Procore zeigt. So ist der Bereich zwischen Zürich und dem Tessin leer – im Kanton Uri gibt es keine Fachstelle, in Graubünden nur eine. In der Innerschweiz können sich Sexarbeitende nur an eine Fachstelle wenden, und zwar in Luzern.

«Die flächendeckende, auf Sexarbeitende spezialisierte Präventionsarbeit muss sichergestellt werden», findet deshalb Angelini. Dafür müssten Bund und auch die Kantone ausreichend Ressourcen bereitstellen.

Gesamtsituation von Sexarbeitenden in der Schweiz muss sich verbessern

Doch nicht nur im Gesundheitsbereich braucht es Massnahmen. «Wenn eine Frau illegalisiert in der Schweiz ist und Kinder und Familie im Herkunftsland finanzieren muss, hat sie vorerst andere Probleme, als wie sie sich vor einer STI schützen kann», erklärt Angelini.

Man müsse die strukturellen Hürden mitdenken, denn: «wenn wir die Gesundheitssituation verbessern wollen, müssen wir die Gesamtsituation der Sexarbeitenden verbessern.»

Zu Beginn der Covid-Pandemie berichteten mehrere Organisationen von einem Anstieg an positiven STI-Tests – damals war die Sexarbeit zeitweise verboten, obwohl sie in der Schweiz eigentlich seit 1942 legal ist. «Wenn Sexarbeitende sich verstecken müssen, weil Sexarbeit illegal ist, können sie von aufsuchenden Stellen, die Prävention machen, nicht mehr erreicht werden», sagt Angelini.

Für Angelini ist deshalb klar: «Wenn man die Gesundheitssituation verbessern will, muss Sexarbeit legal stattfinden können.» Doch warum sind die Syphilis-Zahlen überhaupt gestiegen?

«TalkTäglich»: Diskussion zum Sexkauf-Verbot in der Schweiz: (Abgelehnter Vorstoss im Nationalrat 2022):

Quelle: Tele Züri

Freier müssen Sexarbeiterinnen vor STI schützen

Das BAG stuft die Syphilis-Zahlen seit 2018 als «stabil» ein, wie ein Sprecher auf Nachfrage der Today-Redaktion erklärt. Ein signifikanter Anstieg sei besonders zwischen 2015 und 2017 beobachtet worden. Das BAG vermutet, dass der Anstieg auf das vermehrte Testen zurückgeht. 2019 testeten sich noch weniger als 15'000 Personen auf Syphilis, 2022 waren es knapp 25'000.

Dass das vermehrte Testen ein Grund für den Anstieg der Syphilis-Diagnosen bei Sexarbeitenden ist, erachtet auch Rebecca Angelini als plausibel «Es gibt eine Korrelation zwischen Testen und den Fallzahlen», sagt sie. Sie könne aber nicht beurteilen, ob es wirklich mehr Syphilis-Fälle gibt, für sie sind es deshalb «grundsätzlich besorgniserregende Entwicklungen».

Die Resultate zeigen, dass es wichtig ist, regelmässig auf STIs zu testen. Das betont auch Angelini: «Das Beispiel Syphilis zeigt, wie wichtig es ist, flächendeckend zu testen und flächendeckende Gesundheitsangebote zu haben, die auf Sexarbeitende spezialisiert sind.» Dies müsse man weiter ausbauen.

Doch Angelini hebt auch hervor, dass nicht nur die Sexarbeitenden sich selbst schützen und testen müssen. «Auf der einen Seite ist die Sexarbeiterin oder der Sexarbeiter, auf der anderen der Freier. Auch die Freier stehen in der Verantwortung, die Verbreitung von STI zu verhindern.»

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veröffentlicht: 21. Dezember 2023 06:20
aktualisiert: 21. Dezember 2023 09:50
Quelle: ZüriToday

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