Schweiz

«Ich hatte keine Gelegenheit, meiner Tochter ‹Hoi› zu sagen»

Geburtstrauma

«Ich hatte keine Gelegenheit, meiner Tochter ‹Hoi› zu sagen»

14.02.2023, 10:11 Uhr
· Online seit 14.02.2023, 06:25 Uhr
2021 hat es in der Schweiz 89'644 Geburten gegeben. Viele davon verliefen wahrscheinlich ohne grössere Komplikationen. Auch die 33-jährige Rahel aus Gebenstorf ist im März 2021 schwanger geworden. Während die Schwangerschaft problemlos verlief, war die Geburt lebensgefährlich.
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In der Regel ist eine Schwangerschaft etwas Schönes, die Vorfreude auf das Baby ist gross, doch nicht jede Entbindung verläuft unkompliziert. Bei etwa einer von 1000 Geburten können sehr schwere Komplikationen entstehen, laut Studien können sich Thrombosen und Embolien bilden. Oft kann daher eine Geburt ein sehr schwieriges Erlebnis sein und manchmal sogar zu einem Trauma führen. Darüber zu reden, fällt vielen Betroffenen nicht leicht. Eine, die von Komplikationen bei der Geburt betroffen ist und das Tabuthema brechen will, ist die 33-jährige Rahel aus Gebenstorf. Im November 2021 hat sie ihre zweite Tochter bekommen. Doch muss man hier schon früher ansetzen.

«Es baut alles auf der Geburt meiner ersten Tochter auf. Auch dort gab es schon Komplikationen und die Geburt endete in einem Notkaiserschnitt», erzählt Rahel. Bis zur nächsten Geburt sollte sie mindestens ein Jahr warten, wie ihr geraten wurde, damit die Wunde gut verheilen konnte. «Ich habe das Jahr auch abgewartet und bin dann im März 2021 wieder schwanger geworden. Ich wollte sehr gerne eine natürliche Geburt versuchen, habe mich dazu auch mit einer Hebamme ausgetauscht und über die jeweiligen Risiken gesprochen.»

Das Spital Bülach habe Rahel vor der Geburt zu einem Infotermin eingeladen, an dem auch über die möglichen Komplikationen gesprochen wurde. Zusätzlich erhielt sie ein Merkblatt. «Ich hab beim Lesen nur gedacht, dass mir das schon nicht passieren wird und ich will auf dem Weg bleiben.» Für etwaige Komplikationen gab es auch während der Schwangerschaft keinen Anlass zur Sorge. «Ich hatte eine schöne, recht unkomplizierte Schwangerschaft», so die 33-Jährige. «Erst als ich ins Spital gekommen bin und die Wehen einsetzten, haben sich die Schwierigkeiten herauskristallisiert.»

Beim Abtasten des Muttermundes hatte Rahel schon extreme Schmerzen: «Ich habe wie ein Hund gejault.» Dabei wollten die Ärzte nur schauen, ob sie im Spital bleiben müsse oder wieder nach Hause gehen solle. Das war im November 2021 – eigentlich noch zu früh. «Sie haben mich dann behalten und ich erinnere mich noch daran, dass ich schon nach wenigen Stunden in den Wehen erbrechen musste. Die Schmerzen waren einfach zu stark», berichtet Rahel. Instinktiv sagte sie in der Situation zu ihrem Mann, dass sie nicht wisse, ob sie das vom Körper und von der Kraft her schaffen könne und ob ein Kaiserschnitt an dieser Stelle nicht besser wäre.

Nur wenig Zeit vorhanden 

Die 33-Jährige war in dieser Situation nicht alleine – sie war umgeben von Hebammen, die sich mit ihr ausgetauscht haben, ihr Mut zusprachen und ihr immer wieder mitgeteilt haben, dass sie jederzeit abbrechen könne, was ihr wiederum Selbstvertrauen gab. Immer wieder wurden die Herztöne des Babys überprüft. «Plötzlich sagte die eine Hebamme zur anderen etwas in der Fachsprache, was ich nicht verstanden habe, dann kamen zwei, drei Oberärzte ins Zimmer, dazu auch weitere Hebammen und dann standen in dem Raum mindestens acht Menschen.»

Dann musste alles recht schnell gehen. Die Ärzte kippten sofort das Bett nach hinten. «Meine Beine waren in der Luft.» Die Oberärztin habe versucht, die Position des Babys zu verändern und die Kleine am Kopf zu stimulieren. «Und dann ging es los. Die Ärzte haben die Tür aufgestossen, direkt zum Lift und dann so schnell wie möglich in den Operationssaal.»

Starke Schmerzen und kaum Bewegung

So schnell wie möglich haben die Ärzte das Baby geholt. «Die Kleine hat aber nicht geschrien», erklärt Rahel. Man habe sie gleich weggenommen, musste sie in den erstem paar Minuten stimulieren, weil sie immer wieder Atemaussetzer hatte. Sie war eine Frühgeburt und kam daher direkt auf die Neo-Intensivstation. «Ich hatte keine Gelegenheit, meiner Tochter ‹Hoi› zu sagen, ich habe nur gesehen, wie man mit ihr auf dem Arm raus aus dem Zimmer ist, und ich lag gefühlt stundenlang in dem Operationssaal – im Nachhinein war es ‹nur› eine Stunde.»

Anschliessend wurde Rahel auf die Wochenbettstation verlegt und konnte ihre Tochter weiterhin nicht sehen. Die Schmerzen waren zu stark, an Bewegung war kaum zu denken. Das Neugeborene blieb nach wie vor zur engmaschigen Kontrolle auf der Intensivstation.

Rahels Leben hing am seidenen Faden 

In dieser Zeit realisierte Rahel noch nicht, was gerade passiert ist. Sie war erschöpft und zitterte am ganzen Körper. Die Oberärztin und die Hebammen blieben ruhig und erzeugten keine hektische Situation. «Zum Zeitpunkt der Geburt war noch alles klar, ich erinnere mich gut daran, erst die Zeit danach wird schummrig und ist verschwommen.» Stunden später sei dann die Oberärztin bei ihr im Zimmer gewesen. «Sie sagte mir, dass ich innerlich komplett aufgerissen bin. Die Narbe an der Gebärmutter vom ersten Kaiserschnitt ist gerissen, wie auch der Gebärmutterhals. Der Riss zog sich bis zur Scheide hinunter – ich habe fast einen Liter Blut bei der Geburt verloren.»

Rahel konnte lange nicht begreifen, wie knapp es wirklich war: «Ich war am Leben, ich war ja da.» Weder ihrem Mann noch Rahel selbst war der Ernst der eigenen Lage bewusst. «Bei der Einmonatskontrolle der Tochter hat die Kinderärztin direkt meinen Mann angesprochen und ihn gefragt, wie er sich denn damit fühlt, dass seine Frau dem Tod knapp entkommen ist? Da haben wir beide schon schlucken müssen.»

So eine Situation macht hilflos

Wichtiger für Rahel war direkt nach der Geburt, was mit ihrer Tochter passierte. Das Baby war eine Frühgeburt und sollte zur Kontrolle als auch zur Versorgung noch in der gleichen Nacht in die Neo-Intensiv nach Zürich gebracht und für zwei Nächte beobachtet werden. Dies sagte ihr der spitalinterne Kinderarzt. «Das hat mich am meisten traumatisiert. Mein Kind in einem Glaskasten zu sehen, an Schläuche angeschlossen und zu wissen, dass sein Zustand kritisch ist. Ich konnte mich nicht mal richtig von ihr verabschieden. Da rücken deine eigenen Schmerzen in den Hintergrund.» Die räumliche Spitaltrennung habe ihr am meisten Angst gemacht. «Man ist einfach hilflos.»

Wäre Rahel in einer besseren körperlichen Verfassung gewesen, wäre sie mit gegangen. «Aber ich hatte zu grosse Schmerzen, mein Bauch war immer noch aufgebläht, ich konnte nur schwer atmen und ich hatte das Gefühl, die Fahrt nach Zürich nicht zu überleben.» Sie bekam dann in den Folgetagen eine Computertomografie (CT), bei der die Ärzte Flüssigkeit im Bauch festgestellt haben. «Ich wurde sofort notoperiert, da nicht ausgeschlossen werden konnte, ob ich innerlich noch aus der Wunde blute», fügt Rahel an. Das Schlimmste für sie war jedoch, dass für die Notoperation eine Magensonde gelegt wurde. «Ich musste mich danach minutenlang übergeben. Dazu habe sich bei ihr eine Belastungsinkontinenz entwickelt. Nach einer Woche wurde sie mit ihrer Tochter zusammen aus dem Spital entlassen, allerdings mit viel zu hohen Entzündungswerten. «Ich hatte einen Wert von 274, normal ist ein Wert von 10.»

Und damit begann für die 33-Jährige die nächste Odyssee: «Ich musste zwei Tage später wieder ins Spital, um mir Blut abnehmen zu lassen, damit die Werte kontrolliert werden konnten, dazu nahm ich Antibiotika. Da die Entzündungswerte immer noch viel zu hoch waren, wurde ich angewiesen, notfallmässig bei meiner Frauenärztin einen Gebärmutterhalsabstrich zu machen. Da bestätige sich dann auch eine Gebärmutterhalsentzündung und darüber hing immer noch die Inkontinenz.» Die forderte die junge Mutter vor allem psychisch. «Das war eine sehr schwere Zeit, ich musste Frauenwindeln tragen und habe das Haus eine Woche lang nicht verlassen.»

Erst bei der nachgeburtlichen Kontrolle bei der Frauenärztin konnte festgestellt werden, dass sich eine Fistel gebildet hatte, was äusserst selten vorkomme. Im Januar wurde Rahel ins Kantonsspital Aarau überwiesen und es gab eine Folgeuntersuchung. Anschliessend wurden aufgrund der Diagnose die nächsten Eingriffe geplant – unter anderem auch eine Harnleiterimplantation im vergangenen April. Den letzten Eingriff hatte die 33-Jährige im Mai 2022.

Rahel schaut nach vorne

Dennoch habe sie sich immer gut betreut gefühlt: «Ob im Spital Bülach oder dann im KSA. Die Hebammen und Ärztinnen haben sich immer um mich gesorgt, mir die Eingriffe und nächsten Schritte ausführlich erklärt. In Bülach haben sie mir angeboten, gemeinsam die Geburt aufzuarbeiten oder dass ich mich mit jemandem austauschen kann. Alle Beteiligten haben alles gegeben», meint Rahel.

Die 33-Jährige ist mittlerweile in therapeutischer Behandlung und will eine Selbsthilfegruppe für Frauen mit einem Geburtstrauma gründen. Und obwohl sie mittlerweile darüber sprechen kann und das Trauma am Verarbeiten ist, muss sie noch lernen, die Konsequenzen zu akzeptieren. Zum einen kämpft sie immer noch mit der Harnleiterimplantation und hat ein erhöhtes Risiko für eine Blasenentzündung. Zum anderen sind jegliche Formen von Bauchoperationen in Zukunft lebensgefährlich für sie. Daneben ist ihr ganzer Bauch von Narben übersät.

Am schwierigsten für sie ist aber, dass «ich keine Kinder mehr bekommen darf. Ich wollte immer vier Kinder haben, und ich muss jetzt lernen, dass das nicht passieren wird», sagt Rahel. Ihre zwei Kinder helfen ihr aber dabei. «Mein Mann und ich sind jeden Tag dankbar. Wir haben zwei gesunde Kinder und mir geht es langsam auch wieder besser.»

veröffentlicht: 14. Februar 2023 06:25
aktualisiert: 14. Februar 2023 10:11
Quelle: ArgoviaToday

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