Wahlen 2023

«Rechte Parteien sind von Männern für Männer» – weniger Frauen im Nationalrat

06.03.2024, 09:47 Uhr
· Online seit 23.10.2023, 20:06 Uhr
Der Frauenanteil im Nationalrat liegt neu bei 38,5 Prozent. Er sinkt damit im Vergleich zu 2019 um 3,5 Prozent. Das, obwohl so viele Frauen kandidierten wie noch nie. Woran das liegt und warum es auch positive News für die Frauen gibt.
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Die Schweiz hat am Sonntag gewählt – SP, SVP und Mitte sind die Gewinnerinnen, die Grünen die Verliererinnen. Das Parlament rutscht nach rechts. Zu den Verliererinnen gehören auch andere: die Frauen. Der Frauenanteil im Nationalrat sinkt: von 42 auf 38,5 Prozent.

Unter den 200 Parlamentariern politisieren neu 77 Frauen. Das sind sieben Frauen weniger als bei der historischen Frauenwahl vor vier Jahren. Damit gehört die Schweiz nicht mehr zu den 30 besten Ländern bei der Geschlechterparität. Diese Liste wird von der Interparlamentarischen Union (IPU) in Genf geführt. Nach den Wahlen 2019 hatte die Schweiz noch Platz 15 inne, auf Ende der Legislatur, nach Abgängen, Platz 28.

Nun kann sich die Schweiz also nicht mehr mit ihrer Geschlechterparität rühmen. Was hat dazu geführt?

Frauenanteil im Nationalrat seit 1991 gestiegen

Der Blick in die Geschichte der eidgenössischen Wahlen zeigt: Der Frauenanteil ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. 1991, nach dem ersten Frauenstreik, wurden 35 Frauen ins Parlament gewählt. Bis aufs Jahr 2011 (ein Sitz weniger als bei den Vorwahlen), stieg der Anteil stetig von Wahl zu Wahl.

2018 wurde das Projekt «Helvetia ruft!» von alliance F ins Leben gerufen. Das parteienübergreifende Bündnis setzt sich für mehr Frauen in der Politik ein – und das erfolgreich, wie die Wahl 2019 zeigte.

2019 ging als die Frauenwahl in die Geschichtsbücher ein. Danach sassen 20 Frauen mehr als 2015 im Nationalrat. Insgesamt 84 Frauen starteten in die Legislatur 2019 bis 2023. Am Ende waren es nach drei Rücktritten noch 81.

So viele Nationalrats-Kandidatinnen wie noch nie

Nun verlieren die Frauen in der Schweiz wieder Sitze. Zu wenig Frauen zur Auswahl hatten die Stimmberechtigten nicht. Auf den eingereichten Listen erzielte der Frauenanteil mit 41 Prozent einen historischen Höchststand. 2408 Frauen haben sich 3501 Männern entgegengestellt.

Und dennoch: In der neuen Legislatur werden weniger Frauen politisieren. Politologin Sarah Bütikofer erklärt im Gespräch mit der Today-Redaktion, woran das liegt:

Frau Bütikofer, wie schätzen Sie den gesunkenen Frauenanteil ein?

An der totalen Anzahl der Kandidatinnen lag es nicht. Doch der Frauenanteil auf den einzelnen Listen der Parteien war unterschiedlich. Auf der SVP-Liste hatte es viel weniger Frauen. Bei den Mitte-Parteien um die 40 Prozent. Und je mehr nach links, desto mehr Frauen.

Aber: Die Parteien, die Sitze gewonnen haben, etwa die SVP, waren jene mit tiefem Frauenanteil. Und unter den neugewählten zusätzlichen Parlamentsmitglieder befinden sich nur drei neue SVP-Frauen und sechs SVP-Männer. Ausserdem wurden vier Rechtsaussen-Politiker gewählt – zwei von der EDU, zwei vom MCG in Genf. Bei den Abwahlen war es ausgeglichen. Sieben Männer und sieben Frauen wurden abgewählt. Die Verschiebung der Gesamtkräfte nach rechts hatte also sofort einen Einfluss auf die Frauenvertretung.

Nur weil bei der Mitte und der FDP Frauen neu gewählt wurden, liegt der Frauenanteil im neuen Nationalrat nicht noch tiefer.

Was war bei der historischen Frauenwahl 2019 anders als dieses Jahr?

Die GLP und die Grünen waren damals sehr im Aufwind, sie gewannen viele Sitze dazu. Und die Mehrheit ihrer neuen Sitze wurde mit Frauen besetzt. Der Hauptgrund ist jetzt klar, dass die rechten Parteien Sitze gewonnen und diese Sitze mit Männern besetzt haben. Und auf der anderen Seite sind die abgewählten grünen und linken Frauen.

Was hat sich in den letzten vier Jahren geändert?

Die allgemeine Stimmung war 2019 anders. Es war ausserdem eine andere, schwierige Legislatur, mit Krieg und Pandemie. Das macht den Menschen Angst, dann ist man weniger gewillt, sich mit übergeordneten, gesellschaftspolitischen Fragen zu beschäftigen. Die Menschen hatten andere Sorgen. Es war nicht das ideale Umfeld für progressive Politik, wofür die ökologischen Parteien stehen.

Warum haben die rechten Parteien so wenige Frauen auf ihren Listen?

Die rechten Parteien haben weniger Interesse, für Frauen attraktiv zu sein. Sie werden wesentlich mehr von Männern als von Frauen gewählt. Je weiter rechts, desto mehr sind es Parteien von Männern für Männer.

Die Themen, die in anderen Parteien dafür sorgen, dass der Frauenanteil höher ist, werden von rechten Parteien nicht bewirtschaftet. Für die rechten Parteien ist der Gleichstellungsanspruch kein wichtiges Thema und eine solche Politik zieht weniger Frauen an. Es gibt aber bei der jüngeren Generation ein paar neuere Stimmen. Einige jüngere SVP-Frauen stimmen in einigen Bereichen mit den linken Parteien, etwa bei Vorstössen zur Bekämpfung von häuslicher Gewalt oder bei der Revision des Sexualstrafrechts überein. Aber sie sind eine Minderheit. Das spiegelt sich auch in der Wählerschaft der SVP wider.

Welchen Einfluss hat der gesunkene Frauenanteil auf die Politik der nächsten vier Jahre?

Grundsätzlich ist die Verschiebung von progressiv, von links zu rechts insgesamt schwerwiegender als der gesunkene Frauenanteil. Stimmen für Gleichstellungsanliegen kommen vom linksgrünen, progressiven Lager – nicht nur von den Frauen im Parlament. Der Frauenanteil ist jetzt zwar gesunken. Gleichzeitig wäre ein Geschlechteranteil von 50/50 in allen Parteien kein Garant, dass es mehr linksgrüne, progressive Politik gäbe.

Konnten die Frauen auch Erfolge erzielen?

Es gibt gewisse Erfolge zu verzeichnen. Die als konservativ geltenden Innerschweizer Kantone Nidwalden und Obwalden haben jetzt ein 50/50-Geschlechterverhältnis (National- und Ständerat). Basel-Stadt hat seine fünf Sitze nur mit Frauen (4 Nationalrat, 1 Ständerat) besetzt. Drei Kantone haben eine Frauenmehrheit (Freiburg, Basel-Landschaft, Basel-Stadt). Es ist nicht nichts passiert.

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veröffentlicht: 23. Oktober 2023 20:06
aktualisiert: 6. März 2024 09:47
Quelle: Today-Zentralredaktion

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